Plato: Wer Ist Denn Das?
(Zeitfragen, July/August, 1995)
Eine der Streitfragen, welche die Gemüter nicht nur in New York bewegt, betrifft die Tatsache, dass die Stadt, der Staat, und die Regierung—im Grunde jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, und zwar im ganzen Land—hoffnungslos verschuldet sind, untereinander und wahrscheinlich auch noch bei allen anderen Wesen dieser Welt. Eine Fülle von Massnahmen wurde vorgeschlagen oder schol durchgeführt, wohl um dem sich abzeichnenden Alptraum zu entgehen. Aber nach der Propaganda der Gegner von Budgetkürzungen zu urteilen und nach den furchterregenden Dingen, die uns die Befürworter voraussagen, sollten drakonische Massnahmen nicht bis in letzte Konsequenz durchgeführt werden: Egal wohin wir uns wendin, wir sind in jedem Fall verdammt. Entweder wird keiiner übrigbleiben, um die Toten zu zählen, und zwar wegen der fehlenden, aber lebensnotwendigen öffentlichen Dienstleistungen, oder die Lebenden werden derart bakrott sein, dass sie keinen Cent mehr haben, mit dem sie sich selbst helfen könnten. Soche Nachrichten können sicherlich jedem einen Schauer über den Rücken jagen, der an einem der Frühlingsfeuer sitzt.
Eng verknüpft mit der Frage der drastischen Budgetkürzungen ist die der Todesstrafe, deren Aktualität sich beispielhaft an ihrer Wiedereinführung im Staate New York zeigt. Dort waren jahrelang alle Versuche, die Todesstrafe wiedereinzuführen, am früheren Gouverneur Mario Cuomo gescheitert. In einer feurigen Diskussion flogen wieder apokalyptische Funken. Das Verlangen, die Todesstrafe wiedereinzuführen, und das Vorhaben, den Armen Brot und Medizin zu nehmen, wurde in den Medien als Zeichen jener Art von Ignoranz hingestellt, die ein unmittelbar bevorstehendes Hitler-Amerika heraufbeschwörte. Von der Gegenmeinung drang genug an die Öffentlichkeit, um zu dem Drama beizutragen: Es sei klar, dass die Mehrheit der Bevölkerung glaubt, die Todesstrafe sei für eine nationale Reinigung auf eine beinahe magische Weise notwendig.
Interessant und tatsächlich bedeutsam ist an der “Debatte” über diese und andere “Fragen”, die von der Medien-Intelligenzija gesteuert wird, die vorherrschende intellektuelle Verwirrung, die sie offenbart. Die meisten Menschen sind sich nämlich im Gegensatz zur wirren Debatte in den Medien über einen verblüffend einfachen Gedanken völlig im klaren—um nur ein Beispiel herauszugreifen, allerdings eine Kernfrage in der Diskussion um den Staatshaushalt: Eine erschreckend hohe Zahl von unverheirateten Müttern macht sich tatsächlich einen Beruf daraus, Kinder in die Welt zu setzen, um sich eine eigen Wohnung, Essen und andere Bedürfnisse vom Staat bezahlen zu lassen. Beiinahe jeder weiss, dass die Kriminalitätsrate bedrohliche Ausmasse erreicht hat und dass rigorose, konsequente Massnahmen ergriffen werden müssen. Von allen Seiten werden jedoch Argumente in die Debatte geworfen, die die Grundsätze der Logik völlige ignorieren, die sich gegenseitig aufheben, ja zunichte machen, und die ihren Vertretern selbst kein bisschen weiterhelfen.
Weshalb ist das so? Alle diese Argumente beruhen auf dem gleichen selbstmörderischen Verständnis, das den Menschen gestattet, ihren Lebensstil und ihr Verständnis von Freiheit zu wählen. Sie entscheiden sich damit allerdings auch dafür, einen Umstand zu übersehen: Indem sie die absolute Gleichgültigkeit der persönlichen Freiheit für Bereiche, wo sie es schätzen, verteidigen, öffnen sie logischerweise Tür und Tor für deren Vorherrschaft auch in Bereichen, wo sie es nicht mögen. Ein Blick auf die zwei vorherrschenden Tendenzen soll dies illustrieren.
Die Konservativen in den Vereinigten Staaten, die im allgemeinen für drastische Budgetkürzungen und für strenge Strafen auf dem Gebiet der Kriminalität eintreten, setzen sich tendenziell für wirtschaftliche Freiheit ein und für die Freiheit, nach persönlichem Wohlstand zu streben, der für viele Amerikas Daseinsberechtigung ist. Sie verschliessen allerdings auch ihre Augen vor der Wahrheit, dass es genau die Verherrlichung dieser Freiheit und ihrer Früchte ist, die ein Klima geschaffen hat, in dem Menschen jedes Verbrechen begehen und den Staat auf jede erdenkliche Art ausplündern, nur um materiell voranzukommen. Die Konservativen behaupten immer wieder, dass sie moralische Verderbtheit bekämpfen wollen, doch hat dieses Argument keinerlei Wert, solange sie nicht die Freiheit neu definieren. Auch die wirtschaftliche Freiheit—genau wie alle andere Freiheiten—muss in einem grösseren, weniger autonomen Zussamenhang gesehen werden.
Liberale Amerikaner (sie entsprechen bei uns etwa den Sozialdemokraten, die Red.), die im allgemeinen Budgetkürzungen und die Todesstrafe als unmenschlich und kontraproductiv ablehnen, entscheiden sich für die Förderung eines Freiheitsbegriffes, nach dem jeder seinen persönlichen Lebensstil entwikkeln können soll, in sexueller und jeder anderen nicht wirtschaftlichen Hinsicht. Das hat unausweichlich zur Folge, dass ichbesessene, deren Verhalten genau zu den finanziellen und kriminellen Problemen führt, die die Liberalen wie die Konservativen gerade bekklagen. Ironischerweise gründet der Faschismus, den sie ständig im Munde führen, genau auf dem “Triumph des Willens” des Stärkeren, der auch das kennzeichnende Element der von den Liberalen verfochtenen persönlichen Freiheit ist.
Tatsächlich kann die gleiche Verwirrung in der Diskussion zu allen Fragen festgestellt werden, die die Öffentlichkeit in diesem Frühling beschäftigen. Das war übrigens jeden Frühling so, an den ich mich erinnern kann. Konservative berufen sich auf die Freiheit, ihre Kinder in Schulen iherer Wahl zu schicken und Waffen zu tragen; Liberale berufen sich auf die gleiche Freiheit, wenn sie für freien Schwangerschaftsabbruch und freie Pornographie eintreten. Beide Seiten wollen keine Freiheit in den Bereichen gelten lassen die ihren Gegnern am Herzen liegen; beide Seiten lehnen auch die Diskussion über eine Definition von Freiheit ab, was ihre beschränkte Anwendung so widersprüchlich macht. Die Variationen zu diesem Thema sind so zahlreich wie die Themen, die in jeder journalistischen Saison auftauchen, sterben und wiederbelebt werden. Genau dieser ewige und sinnlose Kreislauf ist es, der mich an Plato denken lässt.
Plato in Amerika einen schlechten Ruf. Er wird mit jener groben, schematisierenden Sicht der Realität in Verbindung gebracht, die schnell zur Ideologie abgleitet und eine unnatürliche intellektuelle Gymnastik erfordert, sobald man die Tatsachen des Lebens in ihren Rahmen pressen will. Für grosses, substantielles und schematisches Denken ist im Leben Amerikas kein Platz, und man glaubt, dass es der freien und normalen Entfaltung der Vielfalt des wirklichen Lebens entgegenstünde.
Dieses Tabu hat jedoch auch seine Kehrseite, die sich auf die unspektakuläre Art zeigt, die ich zu beschreiben versuchte. Wenn ein Individuum, eine Gesellschaft, ja eine ganza Nation die Suche nach dem Sinn derart ablehnt, dass sie sich nur mit “den Fakten” beschäftigt, mit dem Strandgut des täglichen Lebens, mit den von den Medien gemachten und gesteuerten Diskussionen, dann besteht absolut keine Chance mehr für eine vernünftige Diskussion darüber, ob man sich überhaupt lohnt, sich zu ereifern. Es ist so arbeitsaufwendig, Material zu der neuesten Streitfrage zu sammeln und die gängigen Formeln über die Herrlichkeit dieser oder jener uneingeschränkten Freiheit nachzubeten, dass man keine Zeit mehr hat, die eigenen Gedanken und Handlungen zu überprüfen und vielleicht sogar zu ändern.
Zugegeben, in der Geschichte des Westens hat es eine platonische Versuchung gegeben, sich die Welt in so rigiden, logischen, hierarchisch-organisierten Kategorien vorzustellen, dass es schon so aussehen kann, als ob sie die Vielfalt des Lebens erdrückt hätte. Aber Plato ist mehr als das. Er ist einer der Quellen, auf den die westliche Sehnsucht zurückgeht, den Menschen von der Tyrannei an der Rückwand der Höhle zu befreien—die Tyrannei der unmittelbaren, der offensichtlichen, der unüberhörbaren, der sich im Moment aufdrängenden Frage. Es ist eine Sehnsucht, sich dem Licht zu nähern, das all das, was aus der Nähe besehen absolut wichtig erscheint, in eine klarere Perspektive setzt. Und wenn wir dies nun beim Wechsel der Jahreszeiten auch nur ein wenig verwirklichen würden, im New Yorker Hafen (aber auch an anderen Orten!), dann könnten wir vielleicht unser Gemüt und unseren Verstand zu grösseren Fragen erheben, uns an dauerhafteren Wahrheiten erfreuen als an der des Frühlings. Wir könnten uns darauf besinnen, wie wir auf praktische Art die Gesellschaft wieder etwas mehr in Ornung bringen.
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