Der Vergebliche Kampf
(Criticon, Munich, January-February, 1980, pp. 27-28)
Der Syllabus errorum, das am 8. Dezember 1864 von Papst Pius IX. Herausgegebene Verzeichnis von 80 Zeitirrtümer über das Verhältnis von Kirche und Welt, ist für diejenigen, die die Kirche an ihrer Fähigkeit mesen, sich an Zeitströmungen jeder Art anpasen zu können, vielleicht der grösste Skandal der Kirchengeschichte. Under den vielen himmelschreienden Missgriffen dieses Dokumentes wollen wir nur die Todsünde in den Augen aller liberal Denkenden hervorheben: Die unverhüllte Billigung der sozialen Autorität as einer Segnung, die durch einnen gerechten und gnädigen Gott in die Natur dr Dinge eingewoben würde.
Wer immer sich für den Syllabus interessiert, sollte die jesuitische Zweimonatsschrift La Civiltà Cattolica zur Kenntnis nehmen. Die Zeitschrift würde 1850 gegründet und verfolgte expressis verbis das Ziel, “Idee und Gefühl der Autorität” inmitten eines kranken und degenerierenden Europas wiederzugewinnen. (1) Durch eine eifrige, regelmässige und logisch verkettete Verbreitung sozialer und katholischer Doktrinen” sollte “der Triumph der katholischen Wahrheit in ihren sozialen Anwendungen in der Theorie nicht minder als inder Praxis” (2) erzielt werden.
Davon überzeugt, dass eine Warheit, um die menschliche Person unauslöschlich zu prägen, auf einer Vielheit von Wegen dargestellt werden müsse, gingen die Herausgeber abwechselnd mit gelehrten Abhandlungen, satirisch, in Kurzgeschichten, Gedichten und polemischen Glossen auf ihr Ziel zu. Alles wurde in Beziehung zu den grossen Zeitfragen gesetzt, speziell zu denen, die dann im Syllabus ihre Behandlung fanden. Falsche Ideen hätten alle Wissensgebiete durchsetzt, und vor allem hätten die “Sozialwissenschaften sich generell auf einem Abweg” befunden. Daher sei ein umfassender intellektueller Gegenangriff von katholischer Seite geboten. “So gut wie alles muss von Grund auf wiederhergestellt werden, weil so gut wie alles verändert und beschädigt wurde” (3). Dieser Gegenangriff der Civiltà was so einheitlich und durchgehend, dass sich A.C. Jemolo 1948 fragte, ob eine andere Zeitschrift der letzten 100 Jahre es fertig gebracht habe, “immer so sehr auf dem gleichen Gleis zu bleiben, mit relativ seltenen Kurskorrekturen” (4).
La Civiltà Cattolica spielte in den dreizehn Jahren ihres Erscheinens eine nicht unbedeutende Rolle bei der Vorbereitung des Syllabus. Die Herausgeber giffen eine Idee auf, die Graf E. Avogadro della Motta (1789-1865) entwickelt hatte und überzeugten 1851 den Papst, dass die Proklamation des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis eine geeignete Gelegenheit sein werde, um einen Generalangriff auf die Irrtümer des modernen Denkens zu starten. Warum? Wegen des einfachen Tatbestandes, dass das Dogma die Lehre von Erbsünde unterstrich und damit die Hoffnungslosigkeit des Unterfangens aufdeckte, ein Paradies auf Erden errichten zu wollen (5). Die Verbindung dieses Dogmas mit einer Mammut-Verurteilung aller Irrtümer wurde schliesslich verworfen, die Idee des Syllabus deswegen aber nicht aufgegeben. Mehrere Kommissionen wurden ernannt, um den Gegenstand zu studieren, bis 1864 dann die Enzyklika Quanta cura erschien (6).
Er Einfluss von La Civiltà Cattolica ist schwer zu schätzen. Beobachter berichteten, dass der Papst selbst die Schaffung der Zeitschrift auf Bitten von P. Carlo Maria Curci (1809-1891) gegen die Einsprüche des Jesuitengenerals autorisiert habe. Dieser, P. Roothan (1785-1853), hatte gefürchtet, dass eine in einer Landessprache publizierte Zeitschrift der Befürchtung Nahrung geben würde, dass der Jesuitenorden mehr an Politik als an Religion interessiert sei. Weder blieben die alle zwei Monate stattfindenden Treffen des Papsstes mit der Redaktion, noch seine Werbung für die Zeitschrift in Schreiben an die Bischöfe verborgen. Obwohl der Einfluss der Civiltà bis nach Amerika reichte, so war er doch ausserhalb Italiens in Belgien, Deutschland und Frankreich am stärksten. Vor allem Louis Veuillot und seine Zeitschrift l’Univers waren begeistert. Veuillot besuchte die Herausgeber regelmässig, französiche Bischöfe machten wahre Pilgerfahrten zur Redaktion und sogar protestantische Gelehrte tauchten dort auf (7).
Diesem positiven Echo steht auch scharfe Kritik gegenüber. Ignaz von Döllinger (1799-1890) wurde einer der bittersten Gegner der Civiltà und klafte sie später an, versucht zu haben, den Syllabus auf dem 1. vatikanischen Konzil zum Dogma zu erheben (8). Goyau notierte eine deutsche Ansicht, “nach der die Redaktion von La Civiltà Cattolica eine Art von oberstem Gerichsthof für die kirchliche Presse aller Länder werden sollte” (9). Obwohl die liberale katholische Zeitung Le Correspondant manchmal mit der Civiltà verhandelte, wollte Montalembert (1810-1870) nichts mit ihr zu tun haben. Er hielt die Herausgeber für engstirnige Fanatiker und drückte den Wunsch aus, das Gesicht eines solchen ehernen Jesuiten symbolisch mit der Peitsche zu traktieren (10). Auch in Italien gab es ärgerliche Stimmen. A. Bianchi-Giovini (1799-1862) nannte die Herausgeber “unverschämte, unwissende, freche Verbreiter der Ignoranz, Berufsintriganten, gemeine Polizeiagenten, ein hochgestochenes Häuflein von Pedanten” (11).
Sehen wir uns die so titulierten Herausgeber an, die wohl die gemischteste Gesellschaft von Priestern waren, die je eine Zeitschrift herausbrachten. Der Gründer Curci war vor allem ein Prediger und Polemiker, der durch eine Attacke auf Vincenzo Gioberti (1801-1852) bekannt worden war. 1848 in Frankreich im Exil war er auch nach England gereist, was wohl nicht ohne Einfluss auf ihn blieb. Denn die Hungersnot, deren Zeuge er war, erklärt den Eifer, mit der die Civiltà später den “klassischen” Wirtschaftsliberalismus angriff, und seine Empfänglichkeit für menschliches Leiden. Er verstritt sich schliesslich mit der Civiltà wegen des Widerstrebens des Vatikans, das fait accompli des Eindes seiner weltlichen Herrschaft im Kirchenstaat im Jahre 1870 zu akzeptieren (12). Zwei anderre Herausgeber waren der Tiroler Antonio Bresciani (1798-1862) und der Neapolitaner Matteo Liberatore (1810-1892). Bresciani veröffentlichte in Fortsetzungen Erzählungen, die die Torheit der italienischen Revolutionäre beleuchten sollten und war bei diesen entsprechend beliebt (13). Liberatore interessierte sich hauptsächlich für den Thomismus, bei dessen Widerbelebung er eine Schlüsselrolle spielte. Unter Leo XIII. trug er zu den Enzykliken Immortale Dei (1885) und Rerum novarum (1891) bei (14). Das einflussreichste Redaktionsmitglied in den Jahren vor der Herausgabe des Syllabus war jedoch Luigi Prospero Taplarelli d’Azeglio (1793-1862). Ein piemonteser Aristokrat, desser Bruden Massimo der sardinische Ministerpräsident (1850-1852) war und dessen Angehörige meist zu den Nationalisten zählten. Taparelli wurde von so verschiedenen Charakteren wie Veuillot und Gioberti hochgeschätzt. Er übte eine Art von “moralischer Diktatur” im ganzen katholischen Lager aus, wobei seine Stellung in der Civiltà eine grosse Rolle spielte (15). Roger Aubert nennt ihn “einen der bemerkenswertesten katholischen politischen Philosophen des 19 Jahrhunderts” (16). Er bildete nicht nur Liberatore und Curci heran, sondern hatte eine bleibende Wirkung auf die Lehre des Naturrechts in den katholischen Seminaren. Pius XI übersetzte sein Hauptwerk, Saggio teoretico di diritto naturale appoggiato sul fatto (1840), ins Deutsche, als er Leiter der Ambrosianischen Bibliothek in Mailand war. Taparellis Arbeit über die Autorität und den gegenwärtigen Staat, sein Esame critico degli ordini rappresentativi alla moderna (1854) diente der Civiltà als politische Bibel (17).
Drei Themen bestimmen in der Zeit zwischen 1850 und 1865 immer wieder die Civiltà. Das erste Thema kriest um die Betonung der gleichermassen Individuellen wie sozialen Natur des Menschen. Die Zeitschrift weist jeden Versuch zurück, individuelle Freiheit und Menschenwürde ausserhalb des Rahmens der Gesellschaft zu definieren, da soziale Einflüsse und Ausrichtung für diese Güter wesentlich seien. Mit sozialen Einflüssen meinte Taparelli die Ausübung von Autorität, da diese das entscheidende und zusammenhaltende Element der Gesellschaft sei. Die “Fülle” der Autorität, wandte er gegen M. Bonnier von Le Correspondant ein, würde nicht ein Übergewicht bedeuten, das dann durch eine Betonung der menschlichen Freiheit ausgeglichen werden müsse. Vielmehr sei die “Fülle” der Autorität die Voraussetzung für Schutz und Entwicklung des Individuums. Eine schwache Autorität sei eine monströse Sünde wider die Natur, die ihre Korrektur nicht im verstärkten “Individualismus” und der Freiheit finden würde, sondern im gewaltträchtigen Chaos und dem Sieg der Mächtigen über die Eingeschüchterten. Zugleich unterstrichen die Herausgeber, dass die menschliche Natur eine grosse Variationsbreite von gesellschaftlichten Gruppen und Autoritäten im Rahmen der sozialen Ordnung zulasse.
In theologische Tiefen führt das zweite Thema, das der Inkarnation. Die Botschaft der Inkarnation war für die Herausgeber die beste Bestätigung für die Wahrheit ihrer sozialen Lehren. Die Einzelmenschen erfuhren, wenn sie Glieder in Christus wurden, indem sie eine Autorität akzeptierten, die von ihnen nicht geschaffen war, wie sie mit Gott und unter sich vereint wurden.
Das dritte grosse Thema befasst sich mit den Folgen der Leugnung solcher zentraler Wahrheiten. Der moderne Mensch, meinten die Autoren, hat sich auf einen abschüssigen Pfad begeben, der ihn unvermeidlich in Konflikt mit der von ihm so lauthals proklamierten “Menschenwürde” bringen wird. Indem er den atomistischen Individualismus vergöttlicht, die Autorität in ein Anhängsel des menschlichen Willens verwandelt, den Menschen der Wohltat der von seiner Natur geforderten sozialen Identifizierung von Gut und Böse beraubt, zerstört er auch jede Möglichkeit, die Würde und die Freiheit der Menschen zu schützen. Schliesslich würde der Mensch auch die Autorität des Wissens und der objektiven Wahrheit infragestellen und gegen jeden Ausdruck von Wahrheit und Vernunft rebellieren. Die Civiltà zeichnete in zahlreichen Artikeln den Weg nach, in der diese lästerliche und widersprüchliche Freiheit den Staat, die Wirtschaftsordnung, die internationalen Beziehungen, die Philosophie, mehr oder minder alles, was eine soziale Bedeutung hat, mit sich zog. “Protestantischer” Individuallismus, schliesst Taparelli, würde “schlussendlich die Gesellschaft in ein Kannibalenreich verwandeln.”
Schwächen der Zeitschrift waren nicht zu übersehen. Manche der theoretischen Diskussionen, z.B. über den Nationalismus, waren allzu situationsbezogen—in diesem Falle weil Civiltà den Kirchenstaat gegen den italienischen Nationalismus zu verteidigen suchte. Die Begeisterung bei der Aufgabe, die katholische politische und soziale Philosophie wiederherzustellen, führte Civiltà oft auf ideoloogische Abwege. Manche Behauptungen erwecken den Eindruck, als ob die Doktrin so weit entwickelt werden könnte, dass sie dem Staatsmann praktische Lösungen für alle sozialen Fragen, selbst wenn sie gänzlich ausserhalb der Reichweite der Kirche lagen, an die Hand geben würde. Jedoch war die Liebäugeln mit Ideologisierungen nicht sehr ernst. Taparelli und sein Mitarbeiter glaubten nicht, dass eine durch und durch katholische soziale Ordnung dem Übel und dem Verfall entzogen sein würde, dass sie Geschichte und Politik an ein Ende bringen würde oder dass sie den Menschen mehr als die bestmögliche Bedingung für seine unvollkommene Existenz auf dieser Erde geben könnte.
Die grösste Schwäche der Civiltà war jedoch nicht eigene Schuld. Die Katholiken verfügten einfach nicht über die beiden strategischen Waffen, die für den Erfolg eines Unternehmens, wie dem der Jesuitenzeitschrift nötig gewesen wären. Sie kontrollierten nicht die populäre Bedeutung der Worte und die allgemeine Richtung der Ideen und Ereignisse. Die Autoren konnten es einfach nicht schaffen, jeden einzelnen Begriff in einem katholischen Sinne zu definieren, wenn sie mit ihren Gegnern debattierten. Sie wurden so gezwungen, als Feinde all der Begriffe aufzutreten, die nach ihrer Meinung die moderne Welt falsch definiert hatte (Freiheit, Menschenwürde, Persönlichkeit, Liebe), Begriffe die auch in christlilchen Herzen ein breites Echo fanden. Wenn es das Schicksal des modernen Menschen ist, die läppischsten und vulgärsten Gedanken als bedeutend und hochstehend ansehen zu müssen, dann ist es das Missgeschick von Zeitschriften wie Civiltà, genötigt zu sein, diese Gedanken erst einmal ernst zu nehmen, um sie dann zu widerlegen. Auf diesem Wege werden moderne Voreingenommenheiten, wie etwa die Übertreibung der Bedürfnisse des Individuums, unvermeidlich auch Teil des Denkens der Kritiker. Civiltà verlor die Schlacht, weil die Kontrolle über die Sprache bereits der Orthodoxie entglitten war.
(1) “La Civiltà Cattolica al suo posto”, I, iii (1850), 8-9; “Il quinto anno della Civiltà Cattolica”, II, iv (1854), 8-13.
(2) “Le nostre speranze”, I, iv (1851), 10.
(3) “Il giornalismo moderno ed il nostro programma”, I, I (1850), 14-15; “Il secondo volume della Civiltà Cattolica”, I, ii (1850), 14.
(4) A.C. Jemolo, Chiesa e stato in Italia negli ultimi cento anni (Turin, 1948), p. 263.
(5) “Conseguenze sociali di una definizione dogmatica sull’Immacolato Concepimento della BVM”, I, viii (1851), 377-396.
(6) G. Martina, “Osservazioni sulle varie redazione del sillabo”, Chiesa e stato nell’ottocento (Italia sacra, iii-iv, 1962), iv, 11.
(7) Taparelli, Carteggi, ed., P. Pirri, S.J. (Biblioteca di storia italiana recente 1800-1870, xiv, 1932), pp. 479-480, 703; Abbé J. Clastron, Vie de Sa Grandeur Monseigneur Plantier évêque de Nîmes (Nîmes, 1882), I, 350; L. Veuillot, Correspondance, ed., F. Veuillot (12 volumes, Paris, 1931-1932), iii, 140; iv, 53, 78, 86, 96-97n; v, 386n; vii, 204; ix, 203; “Cronaca contemporanea”, I, iv (1850), 685; Lettere alla direzione, Scatola I, cartolina ii.
(8) Janus, Der Papst und das Concil (Leipzig, 1869), pp. 1-37.
(9) G. Goyau, L’Allemagne religieuse (4 volumes, Paris, 1905), iv, 268-269.
(10) “La Civiltà Cattolica et le Correspondant”, Le Correspondant, xxv (1864), 451-452; “Il Correspondant e la Civiltà Cattolica”, V, x (1864), 48-49; Montalembert, Carteggio Montalembert-Cantù, ed., F. Kaucisvili Melzi d’Eril (Milan, 1969), pp. 107, 114-115, 166, 204, 213-214; Correspondance Inédite (Paris, 1970), p. 305.
(12) “Quali sieno le RAGIONI INCONCUSSE del sig. Bianchi-Giovini?”, I, vii (1851), 232.
(13) Über Curci, vgl. P. Curci, Memorie (Florence, 1891), C. Piccirillo, “Le ‘idee nuove’ del padre Curci sulla questione romana”, Chiesa e stato, IV, ii, 608-611.
(14) R. Ballerini, “Del padre Antonio Bresciani”, V, ii (1862), 68-75.
(15) T. Mirabella, Il pensiero politico di P. Matteo Liberatore (Milan, 1956).
(16) Taparelli, Carteggi, p. 7.
(17) R. Aubert, Le pontificat de Pie IX (Histoire de l’Église, xxi, 1952), p. 226.
(18) Über Taparelli, vgl. R. Jacquin, Un frère de Massimo d’Azeglio: le P. Taparelli d’Azeglio (Paris, 1943).
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